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Jahrhundert der Weltkriege

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Muriel Rukeyser 

(* 15. Dezember 1913 in New York; † 12. Februar 1980 ebenda) 

Gedicht

Ich lebte im ersten Jahrhundert der Weltkriege.
Morgens war ich meistens mehr oder weniger verstört.
Die Zeitungen kamen mit ihren unbekümmerten Geschichten, 
Die Nachrichten ergossen sich aus allerhand Geräten, 
Unterbrochen vom Bemühn, Waren an Unsichtbare zu verkaufen. 
Ich rief meine Freunde mittels anderer Apparate an; 
Aus ähnlichen Gründen waren sie mehr oder weniger verrückt. 
Langsam griff ich mir Papier und Bleistift, 
Schrieb Gedichte für andere Unsichtbare und Ungeborene.
Am Tage erinnerte ich mich jener tapferen Männer und Frauen, 
Die Signale über weite Strecken übermittelten, 
Dachte an ein namenloses Leben mit beinah ungeahnten Werten. 
Wenn die Lichter erloschen, Nachtlichter heller leuchteten, 
Versuchten wir, sie uns vorzustellen, versuchten, uns zu finden, 
Frieden zu konstruieren, uns zu lieben, Wachen und Schlafen 
Miteinander auszusöhnen, uns selbst mit den anderen, 
Uns mit uns selbst. Mit allen Mitteln versuchten wir, 
Unsere Grenzen zu erreichen, hinter die Grenzen zu gelangen, 
Die Mittel und Wege loszulassen, zu erwachen.

Ich lebte im ersten Jahrhundert solcher Kriege.

Aus: Sehen heißt ändern. Dreißig amerikanische Dichterinnen des 20. Jahrhunderts. Eine zweisprachige Anthologie. Hrsg., übertragen u.m.e. Nachwort versehen von Jürgen Brôcan. München: Lyrik Kabinett, 2006

Poem

I lived in the first century of world wars.
Most mornings I would be more or less insane, 
The newspapers would arrive with their careless stories, 
The news would pour out of various devices
Interrupted by attempts to sell products to the unseen.
I would call my friends on other devices; 
They would be more or less mad for similar reasons.
Slowly I would get to pen and paper, 
Make my poems for others unseen and unborn.
In the day I would be reminded of those men and women 
Brave, setting up signals across vast distances.
Considering a nameless way of living, of almost unimagined values. 
As the lights darkened, as the lights of night brightened.
We would try to imagine them, try to find each other.
To construct peace, to make love, to reconcile 
Waking with sleeping, ourselves with each other, 
Ourselves with ourselves. We would try by any means 
To reach the limits of ourselves, to reach beyond ourselves.
To let go the means, to wake.

I lived in the first century of these wars.

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